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 Wenn Staaten morden 
Beat Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Mittwoch, 16. September 2009, 13:49
aus dem *aus-dem-wartsaal* dept.

Einen Teil des gestrigen Abends verbrachte ich im Wartsaal des Bahnhofes Bologna Centrale, mein Zug hatte bis zum Schluss 70 Minuten Verspätung. Wireless war kein Thema, die Italiener scheinen ausschliesslich per GSM und UMTS zu quasseln. Das Schmuddelwetter draussen vermochte mich auch nicht ins Stadtzentrum bewegen und der Sitzungsmarathon zuvor sorgte dafür, dass ich mich mit einem Buch in den Wartsaal setzte und gemütlich las.

Neben mir eine Delle im Boden, umringt von einem stabilen Geländer, darin eine kleine Vase mit einer Plastikblume, dahinter ein grosses Loch in der Wand und eine Gedenktafel mit 85 Namen. Das wenige italienisch reichte mir, um den Sinn zu verstehen - hier wurde den Opfern des Bombenattentates vom August 1980 gedacht.

Schon seit Wochen beschäftigte mich die Frage, was das Wort Bologna für eine Erinnerung auslöst. Irgendetwas war da, doch es war schon zu lange her, als dass ich wirklich etwas damit verbinden konnte. Die Erinnerung kam mit der Tafel. Ich war damals in der zweiten Klasse und zuhause lief jeweils das Radio. Logisch, dass solche Anschläge den Weg in die Nachrichten fand.

Die Geschichte hinter dem Anschlag ist lesenswert: Geheimdienst und Rechtsextreme führten das Attentat aus, um es den Kommunisten in die Schuhe zu schieben - gedeckt von Teilen der Regierung und dem Parlament. Staatsdiener, die mit dem Blut der eigenen Einwohner zu radikalen Reformen gegen Freiheit vorgegangen sind.

Das mulmige Gefühl bleibt. Wer hat sie am letzten Wochenende nicht gesehen, die vielen mit Strassenmalkreide auf den Zürcher Boden geschriebenen Denkanstösse zum 9/11? Auch da floss Blut, die Folge waren flächendeckende Einschränkungen in der Freiheit der Bürger. Nur hat sich hier (noch) keine neutrale Untersuchungskommission mit dem Thema befasst - ein Präsidentenwechsel ist noch weit von einem Austausch der regierenden Spitzenbeamten entfernt. Und die profitieren, nach wie vor.

Der Glaube in den Staat, in seine Fähigkeit und seinen Willen die persönliche Integrität zu schützen, seine Ehrlichkeit uns Einwohnern gegenüber - wir sollten lernen, ihm einen grossen Schluck Misstrauen entgegenzubringen. Und doch sehe ich das an mir selbst, wie lange diese Erkenntnis brauchen kann: Ich musste mit knappen 40 ein zweites Mal den Archipel Gulag lesen, um Alexander Solschenizyns Warnung gegen den absoluten Glauben an die Gerechtigkeit des Staates zu verstehen. Das erste Mal, noch in der Schulzeit, hat nicht gereicht. Naiv glaubte ich an das Gute von Oben.

Hoffen wir einmal, dass der neugewählte Bundesrat und die am Wochenende berufenen Gemeinderäte unserer neuen Gemeinde Glarus Nord keine derartigen Ambitionen hegen. Sicher werden wir nie sein - wer schmutzige Geschäfte macht weiss sie in den meisten Fällen auch zu vertuschen.

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