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 Was ist ein Leben wert? 
Nala Geschrieben von Priska Rubischon (Link) am Montag, 2. Februar 2009, 10:33
aus dem traurig dept.

Diese Frage stellen wir uns seit gestern Abend. Ist ein Leben so nichts wert, dass man es einfach dem Schicksal überlässt, obwohl man am Schicksal schuld hat? Wir waren gerade auf dem Heimweg vom Tanzen. Hatten einen tollen Abend und freuten uns aufs Bett.

Die Kerenzerstrasse hochfahrend, gleich beim Beerenboden dann ein Aufschrei von mir. "Bremsen" Auf der anderen Strassenseite sass ein Reh. Ich wusste da ja nicht, dass das nicht auf unsere Seite springen würde... Marius trat auf die Bremse - man sieht die Bremsspur noch gut. Rund 2 Meter vor dem Reh, allerdings auf der anderen Strassenseite kamen wir zum stehen.

Komisch, das steht nicht auf und rennt weg, obwohl es sichtlich versucht aufzustehen. Scheisse wurde das etwa angefahren? Warnblinker rein, Motor abstellen, Leuchtweste rauskramen und mal aussteigen.

Tatsächlich, es kann nicht mehr aufstehen. Marius ruft die Polizei an, während Beat mit dem Pannendreieck unterwegs ist. Das Tier liegt nicht weit von einer starken Kurve entfernt, also Dreieck vor die Kurve, damit kommende Autofahrer nicht auch noch drüber fahren.

Zwei Autos kommen, die wir langsam am Landi und Reh vorbeifahren lassen. Das arme Tier ist im Stress. Man spürt die Angst förmlich. Wir stellen den Landi von unten her vors Reh, damit sicher niemand von unten reinfahren kann. Von oben steht Beat in der Kurve und würde Autofahrer anhalten bzw. auf die andere Strassenseite weisen.

Endlich ruft der Wildhüter zurück, er komme, es daure aber 40 Minuten. Wir können das Reh einfach zurücklassen und Pannendreieck aufstellen. Zu dritt stehen wir beim Rank, aber für keinen kommt es in Frage, dass wir das Reh alleine lassen. Noch immer wissen wir nicht, wie schwer es verletzt ist. Und es lebt. Da kann man das Tier doch nicht alleine lassen!

Marius und Beat bleiben in der Kurve stehen, ich gehe ins Auto. Meine Tanzkleidung ist nicht gerade nachtkalttauglich. *frier*. Ich gehe am Reh vorbei und spreche mit ihm. Aber es hat Angst. Da hilft alles nichts. Ich steig ins Auto. So hat es wohl mehr Ruhe. Auf dem Beifahrersitz sitze ich und schau das Reh an. Versuch ihm wenigstens in Gedanken beizustehen. Man sieht die Angst in den Augen. Schmerzen. Und in mir der Gedanke - wer macht denn sowas!? Ein Reh anfahren, das auf der Strasse liegen bleibt und dann einfach abhauen? Einmal mehr tiefe Enttäuschung über Menschen ohne Mitleid.

Noch ein Auto fährt vorbei. Was der wohl denkt? Dass wir das Reh angefahren haben? Nichts? Ich schaue zu wie das Reh ein letztes Mal mit den Vorderbeinen aufzustehen versucht. Es legt den Kopf auf den Asphalt und zuckt noch mit den Hinterbeinen. Es hat wohl aufgegeben und ist gestorben. Vielleicht gerade, weil wir bei ihm blieben und es nicht weiter überfahren liessen? Vermutlich einfach, weil es keine Kraft mehr hatte und die Verletzungen zu stark waren.

Irgendwann nach halb zwölf kommt der Wildhüter gefahren. Schon beim aufs Reh zugehen stellt er fest, dass es wohl wirklich tot ist. Keine Reaktion auf seine Taschenlampe. Fühlt am Hals, drückt Bauch, schiebt Beine rum. Eindeutig tot. Angefahren und wegen inneren Verletzungen gestorben. Blut aus dem Mund, eine Blutspur die langsam zum Landi rinnt.

Wir versuchen noch etwas zu finden, Glassplitter oder so, wo man das Auto ermitteln könnte. Aber nichts. Keine Bremsspur, keine Scherben nichts. Anscheinend ist es recht üblich, dass Autofahrer die ein Reh angefahren haben, sich nicht darum kümmern und weiterfahren. Traurig oder? Er bedankt sich bei uns, dass wir gemeldet haben und gewartet. Legt das Reh auf ein am Auto angehängtes Gitter. Nichts mehr zu machen. Wir können auch nach Hause.

Durchgefroren zuhause setzen wir uns erstmal an Tisch. Beats Frage erschüttert. "Was ist einem Menschen ein Leben wert?" Dieses Rehleben anscheinend nichts. Nicht mal die Zeit für ein Telefonat, dass der Wildhüter es schneller erlösen kann. Soll es doch elendiglich verrecken. So jedenfalls der Anschein. Die genauen Beweggründe des Kollisionsgegners werden wir nie erfahren.

Nur die verängstigen Augen des Rehs. Gerade mal ein Autofahrer hat angehalten und gefragt ob er helfen kann. Wir kennen uns. Ein "entfernter" Nachbar. Er erzählte dass schon letzte Woche einfach ein Reh angefahren wurde und sich niemand drum gekümmert hat. Die anderen 4 Autofahrer gingen vielleicht noch knapp vom Gas - wenn überhaupt. Kein Interesse was da passiert war. Ob Hilfe benötigt wird.

Ich bin unendlich traurig. Traurig, dass das Rehleben nicht mehr wert war, als wegzufahren. Und doch hoffe ich, dem Reh wenigstens mit meiner Anwesenheit gezeigt zu haben, dass es nicht allen Menschen egal ist, wenn es unter Schmerzen sterben muss.

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