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 Brighton 
Beat Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Dienstag, 27. März 2007, 22:29
aus dem *wow* dept.

Haben sie Wien schon bei Nacht gesehen? sang Rainhard Fendrich vor langer Zeit. Ja, habe ich. Aber das, was ich heute sah, toppt selbst Wien bei Nacht.

Doch eines um das andere. Erst der Flug nach Gatwick, nach einer langen Fahrt dem Jura Südfuss entlang. Unterwegs das erste Mal in diesem Jhr eine Frau in Sandalen gesehen *brr*. Hach war das schön in den 90ern, als Business Flüge von der Sekretärin in der Business Klasse gebucht wurden. Umgeben von schreienden Kids, keifenden Omis und geschäftigen Asiaten in Anzügen macht das Reisen einfach nur halb so viel Spass.

Im Flughafen erwarb ich ein Bahnticket nach Brighton und setzte mich in den Spielzeug Zug. Immer wieder erstaunlich, was das Mutterland der Eisenbahn heute noch macht. Züge von 3-8 relativ kurzen, tiefen Wagen, die ihren Saft aus einer Stromschiene beziehen. Drinnen Viererabteile wie bei uns in der Schweiz, aber ganz tief und schmal, dafür weich und schmuddelig. Man fühlt sich an eine Polstergruppe erinnert. Vermutlich bin ich mit der falschen Bahngesellschaft gefahren, aber der Zug der Southern konnte ich beim besten Willen nicht finden.

Endstation, ab aus dem Zug. Das Ticket wird vom Automaten verschluckt, damit spart mein Arbeitgeber glatt die Spesen. Raus in die Stadt der Schwulen und Lesben. Auf dem Weg zum Hotel begegnen mir die schrägsten Leute. Schrill, bunt und sexy ziehen sie durch die Strassen. Dennoch erwecke ich ein gewisses Aufsehen, man in skirt scheint hier noch etwas Spezielles zu sein. Die Temperaturen von sicher 20° machen den Spaziergang zum Vergnügen.

An der Meerespromenade angelangt einen Schwenker nach links und kurz nach dem zerfallenen West Pier kommt schon das Hotel. Wohl genauso alt wie das Pier erweckt das Hotel sentimentale Gefühle. Der Boden ist komplett schief, das Badezimmer noch mit uraltem Steingut ausgestattet. Das Fenster zum Hochschieben, die zerfallene Stoffdichtung schützt mehr schlecht als recht vor dem Lärm draussen. Dafür hat es dicke Vorhänge, die ich bald schliessen werde. Wann war ich das letzte Mal in einem Hotelzimmer aus der Zeit um 1900? Das war vor 10 Jahren im Dolder und vor 15 Jahren im Glacier du Rhone. Mit dem Stecker des Wasserkochers ist dann auch die Kindersicherung der Steckdose überwunden und die melone kriegt ihr Nachtessen.

Selbst auch hungrig stürze ich mich wieder in die Stadt. In einem Spar finde ich eine grosse Flasche Mineralwasser, bei einem Chinesen gefällt mir das Menü und ich greife zu. Einen grossen Umweg machend stolpere ich ungeplant über den Royal Pavilion und mache einen Abstecher auf den Brighton Pier. Noch ist Winter und der grösste Teil der Attraktionen geschlossen, dennoch lebt das Ganze bereits. Weiter dem Strand entlang bis zum Kinderspielplatz am West Pier, in dessen Nähe mein Hotel liegt. Immer wieder begegnen mir enorm kälteresistente Frauen in Röcken oder Leggins, ohne Socken und Strümpfe. Wobei auch ich meine Strumpfhosen abgelegt habe und herrlich warm habe.

Viele, meist jüngere Leute in Gruppen, alle etwas schräg und schrill. Die meisten friedlich, komische Anmache kommt eher in Niederländisch als in Englisch daher. Am Meer sitzen bereits alle 20 Meter Pärchen, die den lauen Frühlingsabend geniessen. Dann überall dieses altmodische Flair, verschnörkelte Eisenkonstruktionen, wie wir sie sonst nur von Raddampfern her kennen. Alles alt, oft ein bisschen zerfallen - dafür erstaunlich sauber, was gerade in England doch die Ausnahme darstellt. Enorm viel Verkehr, entsprechend lausige Luft in der Stadt. Und überall Kameras, sprechende Mülltonnen und Polizeiautos mit Blaulicht.

Eine faszinierende Stadt. Wohl der Ort, in dem ich mir vorstellen könnte, einen Englischaufenthalt zu machen - wenn ich dazu nicht schon mindestens 15 Jahre zu alt wäre. Ob ich hier leben wollen würde? Keine Ahnung. Fragt mich morgen :-)

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  • christof@buergi.lugs.ch Die liebe Bahn
    Geschrieben von P2501 (Link) am Mittwoch, 28. März 2007, 14:17

    Möglicherweise hast du einen Zug der Thameslink erwischt. Die fahren die gleiche Strecke. Thameslink ist übrigens die einzige Bahn, welche die Innenstadt von London durchquert (sie wechselt dafür auf U-Bahn Geleise).

    Das ist allerdings nicht der Grund für die niedrigen Wagen und die Stromschienen, solches ist in Grossbritannien auch sonst häufig anzutreffen. Und der Grund für die Sitzpolsterung ist bei der Rumpelstrecke nicht schwer zu finden. Auf der Insel dauern Modernisierungen halt immer etwas länger. Selbst für schweizerische Verhältnisse. ;-)



    • Re: Die liebe Bahn
      Geschrieben von Thomas (Link) am Mittwoch, 28. März 2007, 14:53

      Ja, das mit der Modernisierung musste auch die SBB merken, als sie in England investieren wollte...

    • beat@0x1b.ch Re: Die liebe Bahn
      Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Mittwoch, 28. März 2007, 22:33

      Es war ein Zug der First Capital Connect. Die scheinen aber ein Abkommen mit der Southern zu haben und ich scheine wohl nicht schwarz gefahren zu sein. Heute sass ich in einem echten Zug der Southern und staunte über die 5 Plätze auf einer Reihe (3 auf der einen und 2 auf der anderen Seite). Auf einer Bank für zwei Leute haben knapp mein Hintern und ein Rucksack mit der Melone Platz. Ist also saueng :-)

      Interessanterweise fährt hier eigentlich niemand Zug. Mein heutiger Mitarbeiter kam mit dem Bus und war für dieselbe Strecke nur halb so lange unterwegs. Ich habe aber einen riesigen Horror vor englischen Bussen seit ich in Southampton versucht habe, mit einem solchen von Bahnhof in die Jugi zu kommen und nicht einmal die Busfahrer wussten, mit welcher Linie man da hinkommt...

      Leider bin ich noch eine Woche zu früh. Die Volk's Eletric Railway, die älteste elektrisch betriebene Bahn, macht erst an Ostern auf. Das Geleise sieht aus wie eine Gartenbahn und die Schilder warnen vor der sagenhaften Spannung von 110 Volt auf der Stromschiene :-)

      • christof@buergi.lugs.ch Re: Die liebe Bahn
        Geschrieben von P2501 (Link) am Donnerstag, 29. März 2007, 10:29

        First Capital ist der Besitzer von Thameslink. Offenbar haben sie die Wagen mittlerweile umgespritzt. Die "Fünf Sitze pro Reihe" Anordnung der Southern habe ich aber auch schon in der Schweiz bei Thurbo gesehen. Und ja, es ist eng. Geht aber noch. Letztendlich ist diese Anordnung ja nur für kurze Strecken und Pendlerzüge gedacht.

        • beat@0x1b.ch Re: Die liebe Bahn
          Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Sonntag, 1. April 2007, 12:39

          Die "Fünf Sitze pro Reihe" Anordnung der Southern habe ich aber auch schon in der Schweiz bei Thurbo gesehen.

          Durch das etwas grössere Lichtraumprofil dürfte das sogar aufgehen. Bei Southern ist derGang zwischen den Sitzen ziemlich genau 38cm - eine den Handgepäckbestimmungen entsprechende Tasche findet keinen Platz. Und der typische Arsch Hintern einer wohlgenährten Engländerin auch nicht :-)


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  • Brighton Part II
    Submittet auf 0x1b - Blog am 2007/04/01 20:42:44.948 GMT+2
    Ob ich hier leben wollen würde? Keine Ahnung. Fragt mich morgen. Hat niemand gefragt, antworten tu ich dennoch :-)