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 Familie(n) im Landesmuseum 
Polyamory Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Mittwoch, 9. Juli 2008, 22:31
aus dem *ferien* dept.

Heute Morgen besuchten wir zu fünft die Sonderausstellung Familien im Landesmuseum mit dem vielsagenden Untertitel Alles bleibt wie es nie war.

Die Ausstellung bringt Zahlen und Bilder aus den vergangenen 200 Jahren Familienleben. Zeigt den Weg von der aus Vernunft geschlossenen und wirtschaftlich notwendigen Ehe mit vielen Kindern über die uns heute so wertvoll erscheinenden kleinbürgerlichen Familien der vergangenen knapp 50 Jahren bis zur aktuellen Frage nach der Zukunft.

Was bedeutet uns Familie? Wie wird sie gelebt? Welche Aufgaben und Möglichkeiten obliegen Vater und Mutter? Alles Fragen, auf die in erstaunlich einfacher Art und Weise Antworten gegeben werden. Ja sogar etwas eigene Mitarbeit ist bei der Frage nach der Bedeutung gefragt. Auch die laufende Alterung der Gesellschaft ist ein Punkt, auf den die Ausstellung eingeht - können und wollen wir in unserer hochindividualiserten Gesellschaft die "Alten" zur Erziehung der "Jungen" beiziehen?

Ein roter Faden ist die Bedeutung der christlichen Religion und ihrer strengen Monogamieregeln. Seien es die grosszügig ausgelegten Regeln des altrömischen Reiches, welche vom Christentum hochstilisiert wurden, oder die gestreuten Zitate wie die von Schopenhauer und Beauvoir. Die Monogamie mit sexueller Ausschliesslichkeit, die Treue bis zum Tod und die teilweise recht engen Regeln über Heiraten in näherer und weiterer Verwandtschaft werden aus der Sicht des damals herrschenden Klerus beleuchtet und immer wieder hinterfragt. Zusammen mit einer grafischen Darstellung der Scheidungsrate über die vergangenen gut 150 Jahre.

In diesem Bereich zeigt die Ausstellung einen wunden Punkt unser Gesellschaft: Wir leben etwas komplett anderes, als nach Aussen für richtig propagiert wird. Auf der einen Seite Seitensprünge, Scheidungen und Kuckuckskinder - auf der Anderen noch immer der Traum vom einzigen, richtigen Partner, sexueller Ausschliesslichkeit und der versprochenen Treue bis zum Tod. Irgendwie passt das nicht. Dass das nicht nur heute so ist, sieht man an so manchem Detail. Nur waren vor einigen Jahrzehnten die Machtgefüge anders, die wirtschaftliche Abhängigkeit noch so stark, dass vieles nicht sein durfte - sicherlich aber auch schon damals war. Wie sonst wäre ein Kondom aus Tierdarm im 19. Jahrhundert sinnvoll gewesen?

Wie viele andere Special Interest Groups sehen auch die Polyamoristen das Heil in ihrem Weg und viele wünschen sich ihre Lebensweise von einer grösseren Menge Menschen angewandt zu sehen. Doch ist das wirklich der richtige Weg? Dass sich etwas ändern muss, ändern wird, ist sicherlich klar.

Auch wir Linuxler träumten 1995 vom allumfassenden Linux als Ersatz für das damalige Microsoft Monopol - heute haben wir eine Alternative, wenn auch nicht in der Art wie wir damals geträumt haben. Im Serverumfeld ist ein Zoo von Systemen nicht unüblich, im Desktopumfeld knabbert das Linuxoide MacOS an den Marktanteilen von Redmond. Statt einem generellen Umschwung zu Linux forever hat sich eine Offenheit entwickelt.

Genauso stelle ich mir die Offenheit vor, die unsere Gesellschaft im Beziehungsbereich hoffentlich finden wird: Nicht die Ablösung der Monogamie durch etwas komplett anderes wie Polyamory. Sondern einfach eine Akzeptanz dafür, dass etwas Anderes sein kann. Beziehungen nicht mehr zu zweit, Männlein und Weiblein und für ewig sein müssen.

Faszinierenderweise wird dafür nicht einmal eine Aenderung der gelebten Praxis nötig sein. Der Mensch frisst seit einer Ewigkeit unter dem Hag durch. Es ist eine Einstellungsfrage: Darf das sein? Dürfen Menschen nur einen Teil ihres Lebensweges zusammen verbringen? Wenn wir das akzeptieren können, wird uns viel Leid erspart bleiben - Leid, Tränen, Unterdrückung durch Beziehungen, die nur noch sind, weil man es so macht. Eine faszinierende Freiheit wartet hinter diesem "einfachen" Schritt.

Eine gute Stunde dauerte unser Besuch, dann stolperten wir zurück in die Zürcher Sonne. Es war eine faszinierende Ausstellung, jeder von uns wird daraus ein kleines Stück mitnehmen. Sie ist noch bis Mitte September offen und sicher für jeden Familienmenschen einen Besuch wert - auch wenn es sich vielleicht lohnt, mieses Wetter abzuwarten :-)

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Das Kleingedruckte: Der Besitzer der folgenden Kommentare ist wer immer sie eingeschickt hat. Wir sind in keiner Weise für sie verantwortlich.

  • priska@0x1b.ch Re: Familie(n) im Landesmuseum
    Geschrieben von Priska Rubischon (Link) am Donnerstag, 10. Juli 2008, 07:38

    Das Zitat von Simone Beauvoir war: Als ich die Lust zur Sinnlichkeit entdeckte, habe ich an Gott zu glauben aufgehört. Denn er stahl mir die Erde.

    Und das von Schoppenhauer: Wenn die Welt erst ehrlich genug geworden sein wird, um Kindern vor dem 15. Jahr keinen Religionsunterricht zu erteilen, dann wird etwas von ihr zu hoffen sein.