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 Gedanken von Unterwegs 
Beat Geschrieben von Beat Rubischon (Link) am Mittwoch, 6. Juni 2007, 14:28
aus dem *aus-dem-zug* dept.

Steinwerfer: Zehn Monate Haft steht auf der Titelseite der Stuttgarter Nachrichten von heute. Das Treffen der Grossen ist noch nicht vorbei und schon werden die ersten Demonstranten zu unbedingten Gefängisstrafen verurteilt. Zwei Zeugen hätten ihn gesehen, wie er Steine warf. Einer entlastete ihn, wurde vom Gericht aber nicht angenommen.

Da wird mit einem riesigen technischen und personellen Aufgebot ein Dorf zu einer Festung ausgebaut. Ein paar Leute sollen sich da treffen. Nicht Leute wie wir. Bessere Leute. Sie sind äusserst wichtig, man schützt sie. Investiert Millionen, damit sie ungestört ihren Kaffee trinken können. Verteidigt sie bis aufs Blut, isoliert sie von jeglichen Untertanen.

Diesen Untertanen stellt man ein grosses Aufgebot von Polizisten entgegen. Ivy verglich dieses Aufgebot mit dem, das den 80er Aktivisten entgegengebracht wurde und auch da nur in die Sackgasse der Gewalt geführt hat. Die Zürcher haben insofern gelernt, dass sie sich nicht mehr zum ersten Schritt provozieren lassen - auch wenn die "Party" am 1. Mai noch jedes Mal zum grossen Tumult geführt hat.

Bessere Leute, die sich vom normalen Volk abgegrenzt haben, gab es schon früher. Das Volk hat sie meist geduldet - oft unter Zwang. Irgendwann gab es eine Revolution, Köpfe rollten und Blut floss. Vielleicht ja auch nur ein Attentat. Eine enthauptete Königin, eine erschossene Kaiserin, ein ermordeter Sohn. Oder dann einen Oktober, der einer ganzen Familie das Leben kostete und dessen Folgen noch ein halbes Jahrhundert später zu den täglichen Nachrichten gehörte.

Doch das Volk war nie wirklich zufrieden. Und ist es auch heute nicht. Man geht durch irgendeine deutsche Stadt und hört sicher jede Minute jemanden frozzeln, schimpfen oder fluchen. Ueberall Arbeitslosigkeit, Bürokratie, Filz. Armut, Kriminalität, Flucht in Drogen. Irgendeine Biermarke soll "die Freude Hessens" sein - die einzige? Die da oben, hinter dem Wall von Polizisten, Waffen und Kameras - die bekommen von all dem nichts mit.

Sie haben kein Brot? Dann sollen sie Kuchen essen! wird einer französischen Feudalherrin in den Mund gelegt. Wie denken wohl all die Firstladies und Landescheffinnen über ihre Untertanen? Ueber die, die eben nicht mit dem Helikopter fliegen, sondern ein Zweitklass-Bahnticket als nahezu unbezahlbar betrachten müssen?

Was wir hingegen wissen, ist das, was sie für die da unten tun. Sie entwerfen neue Gesetze über den internationalen Handel, der die Arbeitsplätze im eigenen Land wegrationalisiert und welche unter miserablen Bedingungen irgendwo am Rande der Welt schafft. Sie beschliessen in einer Zeit, in der der Atomausstieg unaufhaltbar läuft, CO2 Reduktionen durch das Abbrechen von Kohle- und Oelkraftwerken. Warum nur muss ich in der Zeitung lesen, dass sich der Durchschnittsdeutsche aufgrund der Energieverteuerung keinen Urlaub mehr leisten kann? Sie führen Studiengebühren ein, die den Zusammenhang zwischen Geld und Intelligenz weiter verstärken. Sie mischen in Kriegen "zum Wohle der Menschheit" mit, die ausser ein paar wenigen Oelfirmen nur Leid mit sich bringen.

Ein einzelner Demonstrant wurde nun verurteilt. Von eben diesem Staat, der sich so wenig um seine Bedürfnisse gekümmert hat. In einem Prozess, der von aussen genauso vertrauenswürdig aussieht wie in einer kommunistischen Bananenrepublik. Er wird vielleicht Glück haben, einen guten Anwalt gestellt bekommen, der ihm in einer Berufung das knappe Jahr Knast ersparen wird. Doch wird er einen Eintrag in einer Akte haben, die ihm viele Jobs kosten wird. Die ihn zum Kriminellen abstempelt. Und der er - dank Schengen - in ganz Europa ein Leben lang nicht mehr entkommen wird. Ein Randalierer eben wird es auch noch mit 50 von ihm heissen.

Ich bin gespannt, ob ich den Knall miterleben werde. Einerseits habe ich das Gefühl, dass er nötig ist, mehr denn je. Andererseits weiss ich, dass auch ich im Grunde genommen ein Profiteur des Systems bin. Dass ich mich nicht auflehnen kann, ohne mich und meine Familie in ernsthafte Schwierigkeiten zu stürzen. So lasse ich den Bsetzistein liegen, auch wenn ich überzeugt bin, dass ein paar Leute verdient hätten, ihn angeworfen zu bekommen.

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