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 Ein paar Gedanken 
Polyamory Geschrieben von Beat Rubischon am Samstag, 22. Oktober 2005, 15:20
aus dem wie-denkt-er-darüber dept.

Immer wieder bekommt Priska E-Mails, Kommentare oder Bemerkungen in der Art Was denkt denn Beat darüber?, Beat leidet bestimmt unter Deinem Lebensstil! oder Beat ist bestimmt rasend eifersüchtig! Wird wohl Zeit, meine Gedanken zu Polyamory niederzuschreiben.

Seit ich mich erinnern mag, ist es für mich völlig selbstverständlich, dass man mehrere Menschen gern haben kann. Schon in der Schulzeit kam es vor, dass ich mich in mehr als ein Mädchen gleichzeitig verliebt hatte - leider ohne Chance, dieses Gefühl auch ausleben zu können.

Meine Eltern führen eine stabile und liebevolle Zweierbeziehung die mich so weit geprägt haben, dass ich die Familie und die Stabilität meiner Beziehung über meine persönlichen Interessen stelle. Ausser der Frage Dein Job oder ich gibt es eigentlich nichts, worüber ich nicht bereit bin zu diskutieren und mein Leben dem meiner direkten Umgebung anzupassen. OK, eines gibt es noch: Ein Haustier und ich ziehe aus ;-)

Jemanden zu mögen kann ganz verschiedene Formen haben. Ein langes Gespräch, ein gemeinsames Essen, ein Flirt, eine heisse Nacht. Es kann kurz und heftig sein, es kann lang und keusch daherkommen. Während für viele Leute "jemanden mögen" automatisch Sex bedeutet und alles andere Freundschaft ist, setze ich die Prioritäten anders.

Ich denke mir, dass Sexualität in unserer Gesellschaft viel zu viel Bedeutung besitzt. Es ist für die meisten von uns etwas unheimlich wichtiges, wertvolles, das man nur dem Menschen gibt, mit dem man zusammenlebt oder verheiratet ist. Die typische, stark christlich religiös geprägte Ansicht von Partnerschaft und Sexualität. Hinter diese Ansicht kann ich mich nicht wirklich stellen. Ein mehrstündiges, tiefes Gesrpäch öffnet mich und mein Gegenüber mehr und ist intimer, als miteinander zu schlafen. Ich gebe einer Kollegin bestimmt mehr, wenn ich ihr einen Abend lang zuhöre als wenn ich sie penetriere. Aus der Sicht der Gesellschaft ist es aber viel weniger "schlimm", obwohl ich meine Lebenspartnerin wohl viel mehr hintergangen habe.

Handkehrum: Warum sollte ich mir ein schlechtes Gewissen machen, wenn ich mit jemandem anderen eine schöne Nacht verbringe? Was ist daran so speziell und wertvoll, dass ich das nur mit der Frau machen darf, mit der ich verheiratet bin? Logisch muss ich mir ein schlechtes Gewissen machen, wenn meine Partnerin nichts davon weiss und erfahren darf. Aber wenn ich zu ihr offen sein darf?

Sehen wir uns die üblichen Statistiken an. 8 - 15% der Kinder stammen nicht von dem Vater, der in den Standesämtern registriert ist. Rund die Hälfte aller Frauen und Männer gehen fremd - natürlich meist ohne den Partner zu informieren. Die Mehrheit der Herzinfarkte passieren bei der Geliebten. Diese Doppelmoral in unserer Gesellschaft sollte einem doch etwas zu denken geben. Aber meist ignoriert man diese Tatsache mit den Worten "ich nicht". Lebt seinen vorgegeben Weg weiter, hinterfragt die Regeln, die uns von Gesellschaft, Kirche und Staat auferlegt wurden nicht weiter.

Priska und ich führten schon lange eine sehr direkte, offene und ehrliche Kommunikation miteinander. Ich wusste praktisch von Beginn weg, dass ich nicht in der Lage wäre, einen Seitensprung vor ihr zu verheimlichen. Ich wusste, dass sie einen solchen nicht akzeptieren würde und ich damit unsere Beziehung und die Grundlage für unsere Familie zerstören würde. Wir hatten gegenseitig unsere Grenzen abgesteckt. Ein Flirt? Warum auch nicht. Aber mehr bitte nicht.

Gegen Ende der 90er begann ich wieder regelmässig zu tanzen. Wir hatten viele Gespräche über Nähe, Körperkontakt, Erotik und was sonst noch alles mit Tanzen in Verbindung gebracht wurde. Ich sprach oft von meiner Einstellung zum Leben, zur Liebe und Sexualität. Von meinen Wünschen, einer Frau vielleicht auch einmal näher als 10cm kommen zu dürfen. Priska war es oft unwohl dabei, wenn ich weg war. Sie suchte Kontakte in der einen oder anderen Mailingliste und kriegte normalerweise Kommentare im Stil "tanzen ist wie miteinander schlafen". Ich kam mehrmals spätabends heim und wurde erst einmal mit einem Eifersuchtsanfall konfrontiert. Kurz nach meinem dreissigsten Geburtstag eskalierte die Situation und ich entschloss mich dazu, das Tanzen erst einmal beiseite zu lassen um nicht noch mehr Geschirr zu zerbrechen.

Priska hinterfragte in der folgenden Zeit oft unsere Beziehung, unsere Einstellung. Sie begann, die Werte aus ihrer Erziehung zu hinterfragen, stellte sich zu den einen sehr positiv, stellte die anderen in den Wind. Wir sprachen viel in der Zeit über unsere Gedanken und Wünsche. Viel von meiner Einstellung wurde mir damals erst richtig bewusst. Sie ging ein erstes Mal ins Wellness, genoss ein paar Tage Ruhe ohne Kinder, Mann und Verantwortung. Ihr wurde damals klar, dass ich eigentlich gar nicht so unrecht habe. Man kann mehrere Menschen gerne haben und es ist doch eigentlich ein absoluter Blödsinn, dass man das nicht darf.

Ueber eine Newsgroup lernte sie andere Menschen kennen, die ähnliche Gedanken in sich haben. Es war also nicht einfach der Beat, der so komische Flausen im Kopf hat, sondern etwas, was durchaus auch in anderen Leuten steckt. Sie fand einen Mann, mit dem sie über längere Zeit erotische Phantasien austauschte und den sie letztendlich gar traf. Am nächsten Mittag kam sie heim, im Kopf noch die Erinnerungen an eine wunderschöne Nacht und einem unwohlen Gefühl im Bauch, was ich jetzt wohl dazu sagen würde.

Ich freute mich für sie. Keine Eifersucht, kein schlechtes Gefühl. Zwischen uns waren ja auch keine Lügen, keine Geheimnisse. Der Kick dieser Nacht hat unserer Beziehung viel gebracht, wir waren einander näher als zuvor. Die darauf folgende Zeit war sehr intensiv und erotisch.

Mittlerweile sind ein paar Jahre vergangen und Priska hat eine stabile Zweitbeziehung gefunden. Dies ist logischerweise etwas anderes als nur eine Nacht. Mit der Zeit kommen auch Aerger, Kampf und Krach - obwohl die beiden bedeutend weniger miteinander knatschen als wir das in unseren jungen Jahren machten. Ich komme mit ihrem Partner gut zurecht und habe nicht das Gefühl, die beiden alleinelassen zu müssen. Wir leben allesamt nicht das normale, vorgegebene Leben. Keine Chance, einfach jeden Tag aufzustehen und denselben Trott durchzuziehen. Das macht das Leben äusserst interessant, abwechlungsreich und intensiv.

Ich mag vielleicht etwas speziell sein, da ich nie das Gefühl der Eifersucht hatte. Ich kann mich darüber freuen, dass meine Partnerin ein schönes Erlebnis hatte, auf der rosaroten Wolke schwebt und ganz einfach glücklich ist. Warum auch mit ihr streiten? Lieber lasse ich mich mit auf die Wolke nehmen und mich mit den guten Gefühlen mittragen. Ich kann von der Zweitbeziehung auch durchaus profitieren. Sei es, dass wir auch einmal spontan unsere Ruhe finden können, da ein Babysitter zuhause ist, sei es, dass Priska jemanden zuhause hat, wenn ich einmal unterwegs bin.

In all den Jahren hatte ich zu den Frauen, die ich mochte, einen gewissen Abstand gehalten. Ich wollte Priska die Möglichkeit geben, sich mit ihrer Eifersucht auseinanderzusetzen. Zu lernen, damit umzugehen und nicht gleich meinen Kopf abzureissen, wenn ich von einer anderen Frau her heimkomme. Ich hatte mich dazu vor allem in der Arbeit vergraben. Die grossen Ferien in diesem Jahr waren für mich ein Punkt, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und in meinem eigenen Leben weiterzukommen. Natürlich immer mit der Limite, die eine Familie stellt. So bin ich heute bereit, einer Frau näherzukommen, Gefühle und Liebe zu geben. Natürlich muss das Umfeld stimmen. Ich bin weder bereit, Priska zu hintergehen, einen anderen Menschen anzulügen oder zu weit zu gehen. Falls es tatsächlich zu einem intensiven Kontakt mit jemandem kommt, so wird dieser langsam entstehen und mit viel Rücksichtsnahme aufgebaut werden müssen.

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